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Von Lomonosov bis Deržavin

Einleitung

Das 20. Jahrh. zeichnet sich in Rußland durch gesteigertes Interesse für die russische Vergangenheit aus. So machte sich auch in den literarischen Strömungen des letzten Jahrzehnts die Tendenz bemerkbar, alte dichterische Werte zu neuem Leben zu erwecken. Bei der Ausbildung eines neuen Kunstsinnes, der den Anschauungen am Ende des 19. Jahrh. entgegengesetzt ist, schöpfte die Gesellschaft gerne aus den Dichtungen der Zeit Puškin's und der vorhergehenden Epochen. Doch die Entdecker neuer dichterischer Werte aus der fernen Vergangenheit mußten meist rein gefühlsmäßig vorgehen, schon deshalb, weil sie nur Anbeter des Schönen, nicht aber gelehrte Forscher waren; hinzu kommt noch, daß die russische Literatur des 18. Jahrh. bisher noch nicht wissenschaftlich untersucht ist. Auch wird die Forschung erschwert durch das Fehlen von wissenschaftlichen, wie überhaupt neuen Ausgaben. Befriedigende vollständige Ausgaben der gesammelten Werke gibt es fast gar keine. In wissenschaftlichen Ausgaben liegt nur Lomonosov und in veralteten Deržavin, auch Kantemir vor. Mehr oder weniger umfangreiche Sammlungen in Form von Chrestomathien (z. B. S. VENGEROV Русская поззия оdег Аnna VESELOVSKAJA Любовная Лирика XVIII в) können natürlich diese Lücke nicht ausfüllen. Infolge ungenügender Kenntnis des Materials ist vieles der Aufmerksamkeit derjenigen, die sich für die Dichtung des 18. Jahrh. interessierten, entgangen, vieles in falschem Lichte dargestellt. Jetzt scheint endlich die Zeit gekommen zu sein, um von zufälliger Lektüre zu folgerichtiger Forschung überzugehen, der eine sorgfältige bibliographische Orientierung zugrunde liegen muß. Der vorliegende Aufsatz bezweckt,

Zeitschrift f. slav. Philologie. Bd. II.

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die wesentlichsten literarhistorischen Probleme anzugeben, die heute bei Untersuchung der Dichtung aus den 40 er bis 80er Jahren des 18. Jahrh. auftauchen. Begonnen werden muß mit einer Klarlegung der Grundbegriffe und Gesichtspunkte, die bisher noch nicht in genügendem Maße ausgearbeitet sind. So ist z. B. der russische Klassizismus und sein Verhältnis zu den entsprechenden Strömungen in West-Europa zu behandeln. Wir dürfen dabei nicht, wie es früher häufig der Fall war, den auf die russische Literatur von Seiten des sog. französischen Klassizismus ausgeübten Einfluß überschätzen. Um so weniger darf man annehmen, daß das Schaffen der russischen Dichter aus der Mitte des 18. Jahrh. in starkem Maße ein Nachahmen französischer Vorbilder war. Abgesehen von der prinzipiellen Unannehmbarkeit einer solchen Ansicht, abgesehen von der unklaren und widerspruchsvollen Auffassung vom französischen Klassizismus, auf die sich die erwähnte Theorie gründet, widersprechen ihr auch die Tatsachen selbst. Zur Zeit Elisabeth's und Katharina's benutzte Rußland fremde Literaturen, um durch Aufnahme fremden Materials die Fähigkeit zu eigenem, originellem Schaffen zu erwerben. Die russische Literatur wurde von Übersetzungen überschwemmt. Dabei ging man bei allen in die Schule, die deutliches und verständliches Material bieten konnten. Vieles übernahm man von Frankreich, aber auch von Deutschland, Italien, England und besonders von der Antike. Die hierfür sprechenden Tatsachen sind allzu zahlreich. Da genügt der Hinweis, daß Lomonosov, der in Deutschland seine literarische Ausbildung genossen hatte, ein Anhänger Günther's war und sich bis zu seinem Tode nicht von dem Einfluß der theoretischen Forderungen Gottsched's befreien konnte, daß Trediakovskij, der die französische Tragödie und darauf die Dichtung überhaupt verpönte, neben Fénélon auch Barklay (aus dem Lateinischen) und Thomas Morus übersetzte. Sumarokov widmete Karschin ein Gedicht, übersetzte Flemming, schuf seine anakreontischen Oden teilweise unter Gleim's Einfluß, machte antike Verse in der Art derjenigen von Klopstock und führte in seine Komödien Motive nach dem Vorbilde von Holberg ein. Dieser war im Rußland des 18. Jahrh. ganz besonders populär. Man über

setzte ihn, man lernte von ihm, und auch Fonvizin war nicht der letzte, der in seine Komödie бригадир viele Holberg'sche Züge übernahm. Einen großen Einfluß übte auch Klopstock aus. Sein „Messias" wurde teilweise von Deržavin, teilweise von Kutuzov (allerdings in Prosa) übersetzt; viel schöpfte aus ihm Cheraskov, der seinem Ерos Вселенная Klорstоck's Dichtung und das „Verlorene Paradies" zugrunde legte. Einer gleichen Vorliebe erfreute sich Gellert. Er wurde von Apollos Bajbakov (die geistlichen Lieder) übersetzt, von Chemnitzer (Fabeln) wiedererzählt, ihm entnahm Katharina II. Fabel und Motive für ihre Komödie О время! (vgl. A. ČEBYŠEV Источник комедии имп. Екатерины „О время“ Petersburg 1907) usw. Von den Italienern trugen Metastasio, Ariost u. a., von den Engländern Adisson (seit den 70er Jahren auch Shakespeare) zur Schaffung einer Tradition für Oper, Tragödie, Märchen in Versen und das satirische Feuilleton bei. Gleichzeitig wurden fast alle Schriftsteller Griechenlands und Roms übersetzt. Rußland eignete sich damals die antike Literatur in ihrem ganzen Umfang an. In russischer Sprache konnte man nicht nur Cicero, Seneca, Cornelius Nepos, Terenz, Petronius, Apuleius, Plato, Demosthenes, Lucian, Herodot u. a. lesen, sondern auch Herodian, Athenagoras, Plinius den Jüngeren, Valerius Maximus, Vitruvius u. a. Die großen Dichter Roms fanden eine begeisterte Anhängerschaft; in Prosa und Reim wurden sie, wie auch Anakreon, mehrmals übersetzt. Alle mehr oder weniger hervorragenden Dichter von Kantemir angefangen bis auf Deržavin bemühten sich um diese Übersetzungen. Durch Lektüre westeuropäischer und klassischer Schriftsteller bereicherte sich Rußland um die tausendjährige Erfahrung anderer Völker. Diese verschiedenartigsten Einflüsse kreuzten sich und ließen eine eigenartige, originell russische Literaturrichtung entstehen; denn es lebten damals noch die altrussischen Traditionen, die aus dem 17. Jahrh. und dem Zeitalter Peters des Großen auf die Zeitgenossen von Trediakovskij und Lomonosov überkommen waren. Die Wurzel der russischen Literatur, den sog. Klassizismus, hat man vor allen Dingen hier zu suchen. Jene im Laufe von Jahrhunderten entstandene Tradition war noch stark genug, um alle fremdländischen Einflüsse sich zu unterwerfen,

und sie zu einem organischen Ganzen zu verschmelzen. Die Verbindungen der einzelnen Stilgattungen, wie sie Mitte des 18. Jahrh. vorlagen mit denjenigen der russischen Literatur des 17. und des beginnenden 18. Jahrh., sind zahlreich und mannigfaltig. Bereits vor langem wurde darauf hingewiesen, daß die „feierliche" höfische Ode, die beliebteste Literaturgattung der 30er und 40er Jahre, auf die Panegyriken der ukrainischen Dichter aus der Kiever Schule des 17. Jahrh. zurückgeht 1) (spätere Beeinflussungen gingen von den Oden Malherbe's, Rousseau's und Günther's aus). Das im 17. Jahrh. in Kiev, gleichzeitig und zu Beginn des 18. Jahrh. in Moskau florierende Schuldrama hat zweifellos auf die Auslegung der vom Westen übernommenen dramatischen Formen durch russische Schriftsteller eingewirkt. So ähneln die Possen Sumarokov's mitunter mehr jenen Intermedien, die auf den Bühnen der Volkstheater unter Peter dem Großen aufgeführt wurden, als den regelgetreuen Komödien von Molière und Regnard. Die Psalmen und versmäßigen Übertragungen biblischer Texte überhaupt, eins der wichtigsten Kapitel der Dichtung des 18. Jahrh., setzen unmittelbar die Tradition der Syllabisten (Simeon von Polock u. a.) fort; wenn Lomonosov und seine Zeitgenossen auch von Rousseau und den deutschen Psalmenübersetzern gelernt haben, so bedeutete das doch nur eine Ergänzung oder geringe Veränderung des bereits bestehenden Systems. So lieferte ja auch Feofan Prokopovič Sumarokov das nötige Material zur Schaffung des leichten journalistischen Stils und an diese bereits bestehende Tradition schloß sich weiter an, was die russischen Prosaiker von Addison oder dessen Nachahmern entlehnten. Dagegen wurde das Liebeslied aus der Zeit Peters, eine durchaus entwickelte und populäre Literaturgattung, die in den kleinen (syllabischen) Liedern des jungen Trediakovskij ihren Höhepunkt erreichte, gleichfalls von Sumarokov einer Bearbeitung unterzogen. Indem er aber in diesem Falle teilweise von der russischen Tradition abwich, zog er

1) Vgl. A. J. SOBOLEVSKIJ Когда начался у нас ложноклассицизм. Библиограф 1893; eine Wiederholung der gleichen Gedanken findet sich bei O. POKOTILOVA Предшественники Ломоносова. Сборник статей: Jомоносов Hgb. V. SIPOVSKIJ; ferner V. SIPOVSKIJ Русская лирика I. XVIII в. U. а.

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