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Prothese ursprünglich ein „Satzsandhigesetz" gewesen sein. Die mit o anlautenden Worte mußten ursprünglich in zwei Formen (mit und ohne v) erscheinen, je nach dem, ob das vorhergehende Wort vokalisch oder konsonantisch auslautete; mit der Zeit wurde diese Regel vernachlässigt und vergessen, die vo- und @-Formen wurden promiscue gebraucht, bis schließlich entweder die eine oder die andere verallgemeinert wurde, was bei jedem einzelnen Worte und in jeder einzelnen Mundart gesondert vorgenommen wurde. Wichtig für die v-Prothese bleibt, daß sie auch im Grr. sich nur vor ∞ (d. h. uo) lautgesetzlich entwickelte. Für das WBr. fehlen bis jetzt erschöpfende Materialsammlungen. Das prothetische v kommt in verschiedenen wẞr. Mundarten bald dort, wo man im Grr. ein o erwarten würde (z. B. vòstryj, vòspa, vòkna), bald dort, wo man im Altklr. ein uo ansetzen darf (z. B. voś, vòucy, vojcú), vor, was nach dem oben über den möglichen zwiefachen Ursprung des altwßr. *uo Gesagten leicht begreiflich ist. Leider ist es bei dem heutigen Stand der Forschung unmöglich zu bestimmen, wie stark alle diese Formen auf wßr. Boden verbreitet sind und wie sie sich geographisch verteilen. Jedenfalls widerspricht das wßr. Material nicht dem oben ausgesprochenen Satze, daß die v-Prothese in allen ostslav. Idiomen systematisch vor altem gebrochenen o (uo, ∞) eintrat1).

Was die Chronologie dieser v-Prothese betrifft, so reichen die ältesten klr. Belege (Faко вовыд Galiz. Ev. 1266) in die zweite Hälfte des 13., die ältesten grr. tauchen erst im 14. Jahrh. auf. Wir haben hier also wiederum eine Lautveränderung, die sich von Südwesten her über das ganze ostslav. Sprachgebiet

(*povost neben pogost), korovod (*korovod neben korogod). Man könnte also von *tow, *powst, *lcorowd ausgehen. Es fragt sich nur, wie der Ausfall des g (bzw. y) zu erklären ist. Einen lautgesetzlichen Schwund des g (bzw. y) zwischen o und ∞ zu vermuten, ist wegen solcher Wörter wie rogòža, pogòda, die, soviel ich weiß, ihr g (bzw. y) in allen grr. Mundarten bewahren, unmöglich.

1) Diese systematische v-Prothese darf nicht mit der sporadischen v- und h-Prothese vor ungebrochenem o (voko, hoko, vorich, horěch usw.) und u (vuž, vucho, huž, hucho usw.) verwechselt werden, die in verschiedenen klr. und wßr. Mundarten oft vorkommt.

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verbreitet hat. Das ist wohl aber auch die letzte allrussische Lautveränderung: ihre Entstehung liegt noch im „Zeitabschnitt 1164-1282", aber ihre Verbreitung vollzog sich erst viel später.

Vergleicht man diese letzte allrussische Lautveränderung, die einzige, deren Verbreitung über das ganze ostslav. Sprachgebiet jünger als 1282 war, mit den allrussischen Lautveränderungen des „Zeitabschnittes 1164-1282", so fällt gleich der Unterschied in der inneren Tragweite auf. Durch den Intonationsund Quantitätsverlust wurde das ganze phonologische System der Sprache grundsätzlich verändert; durch den Wandel ky > ki wurden neue Laute (k, ģ, ý, x) in das Lautsystem eingeführt1), durch die Halbvokalbehandlung alte Laute (%, 6) aus dem Lautsystem beseitigt. Dagegen wurde durch die v-Prothese gar nichts prinzipiell neues geschaffen: der Laut v bestand ja auch früher im russischem Lautsystem. Nach dem Intonations- und Quantitätsverlust mußte jedes Wort, nach der Halbvokalbehandlung die meisten Wörter anders als vorher lauten (oder wenigstens subjektiv anders empfunden werden); auch der Wandel ky, gy, xy > ki, ģi, xi spielte sich in zahlreichen Wörtern ab 2). Dagegen war der Spielraum der v-Prothese (die ja, wie oben angegeben, ursprünglich nur nach vokalisch auslautenden Wörtern eintrat) ein sehr beschränkter. — Zieht man noch den Umstand in Betracht, daß alle wirklich tiefgreifenden Lautveränderungen

1) Früher, im 11. und in der ersten Hälfte des 12. Jahrh. scheint knur in der Lautverbindung sk vor ĕ bestanden zu haben: vgl. чловчьскĚи, женьскьи Sboгn. Svjatosl. 1073 und andere ähnliche Formen. Das auch in morphologischer Hinsicht alleinstehende paбoy CвоIемOу Дьмькь in der Novg. Menüe 1096 ist rätselhaft, um so mehr als der Name Дымько sonst nirgends vorkommt. Ist das nicht ein Schreibfehler?

2) Man darf die Tragweite des Wandels ky <ki und seine Bedeutung für die weitere Sprachentwicklung überhaupt nicht unterschätzen. Erst nachdem die palatalen K, ģ, durch diesen Wandel in das Lautsystem eingeführt waren, wurden solche Neubildungen wie grr. ruke, noge, snochě, v domike, Imperat. peki, pomogi, Präs. grr. ткÖть, wßг. пeкëшь usw. möglich. Die Denkmäler zeigen, daß solche Neubildungen erst im 14. Jahrh. (also nach dem Wandel ky > ki) einigermaßen allgemeingebräuchlich wurden.

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der „Periode nach 1282" (z. B. einzelne Erscheinungen der Verstümmelung unbetonter Silben, ferner die Beseitigung von ě, w, die Erhärtung von ŕ, c, č, š, ž), wie oben ausgeführt, nicht das ganze ostslav. Sprachgebiet berührten, sondern immer nur beschränkte Verbreitungsgebiete hatten, so kommt man zum Schluß, daß die geringe innere Tragweite der einzigen allrussischen Lautveränderung dieser Periode, nämlich der v-Prothese, nicht zufällig, sondern geradezu typisch ist. Nach dem Abschluß der allrussischen Lautveränderungen des „Zeitabschnittes 1164 bis 1282" hatten wichtige und tiefgreifende Lautveränderungen nicht mehr die Kraft, sich über das ganze ostslav. Sprachgebiet zu verbreiten. Und diese Unfähigkeit der Gesamtheit der Dialekte einer Sprache, wesentliche Lautveränderungen zusammen durchzumachen, ist eben ein Zeichen der eingetretenen Auflösung.

X.

Wir haben die russische Lautentwicklung vom Beginn des Auftretens der ältesten dialektischen Gegensätze bis zum Abschluß der letzten allrussischen Lautveränderung verfolgt. Es hat sich dabei herausgestellt, daß der an andere slavische Sprachen grenzende südwestliche und westliche Teil des ostslavischen Sprachgebietes sich von Anfang an verschiedene in den benachbarten slavischen Sprachen entstandene Lautveränderungen aneignete, und daß diese Lautveränderungen sich dann von SW und W her über das übrige Sprachgebiet verbreiteten, wobei sie gegen den zähen Widerstand anderer, entlegenerer Teile des ostslavischen Gebiets kämpfen mußten. In ältester (in ihren Anfängen wohl in die späturslavische Periode hineingreifender) Zeit war der sich den südwestlichen Lautveränderungen widersetzende Teil des Ostslavischen geographisch sehr beschränkt, allmählich wurde er aber immer größer. Die Verbreitung der von Südwesten herkommenden Lautveränderungen wurde immer mehr und mehr erschwert und konnte nur im langsamen Tempo vor sich gehen. Durch diesen Umstand wurden fortwährend dialektische Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen des Sprachganzen geschaffen, und da die einzelnen Lautveränderungen sich immer ungefähr in den

selben Richtungen verbreiteten, so mußten auch die einzelnen dialektischen Unterschiede sich in ungefähr gleicher Weise geographisch verteilen. Und selbst, wenn es einer Lautveränderung gelang, den Widerstand der einzelnen Teile des Sprachganzen zu überwinden und sich über das ganze Sprachgebiet zu verbreiten, blieben die durch das langsame Verbreitungstempo dieser Lautveränderung geschaffenen dialektischen Unterschiede doch bestehen. Durch die Häufung solcher Unterschiede wurde das Sprachganze in solchem Maße differenziert, daß schließlich ein Zustand eintrat, bei dem keine einigermassen wichtige Lautveränderung die Kraft hatte, sich über das ganze Sprachgebiet zu verbreiten. Dieser Zustand war von dem alten grundsätzlich verschieden: früher strebte jede Lautveränderung danach, das ganze Sprachgebiet zu umfassen und blieb nur dann stehen, wenn sie zu einer Mundart gelangte, wo die für die Vollziehung des betreffenden Lautwandels nötigen lautlichen Bedingungen noch nicht erreicht oder schon beseitigt waren; jetzt stockte die Verbreitung einzelner Lautveränderungen auch ohne solche sachliche Gründe, einfach aus Mangel an Expansionskraft. Von nun an wurden die mundartlichen Unterschiede nicht nur wie früher durch das langsame Tempo der Verbreitung einzelner Lautveränderungen geschaffen, sondern auch einfach dadurch, daß jede einzelne Lautveränderung jetzt ihr eigenes Verbreitungsgebiet besaß und ohne ersichtliche Gründe in verschiedenen Teilen des Sprachgebietes stehen blieb. Auf diese Weise mußte die Lautentwicklung des Sprachganzen aufhören. Zum einzigen Subjekt der Lautentwicklung wurde nunmehr jede einzelne Mundart. Das war die Auflösung der Spracheinheit.

Die Betrachtug des oben skizzierten Bildes der altrussischen Lautentwicklung führt auch zu Schlüssen allgemein methodologischer Natur. Wir haben gesehen, daß oft das langsame Tempo der Verbreitung einer schließlich das ganze Sprachgebiet umfassenden Lautveränderung tiefere Dialektunterschiede hervorrufen kann als eine lokale Lautveränderung mit beschränktem Verbreitungsgebiet. Es ist also wichtig auch bei allgemeinen Lautveränderungen, das Tempo und die Richtung der Verbreitung immer zu berücksichtigen.

Ferner glaube ich festgestellt zu haben, daß die russische Spracheinheit sich nicht etwa zuerst in 3 oder 4 Tochterspracheinheiten, sondern direkt in eine unbestimmte Masse von Mundarten aufgelöst hat. Ein einheitliches,,Urgroßrussisch" hat es nie gegeben, weil die Eigentümlichkeiten, die das Nordgrr. vom Südgrr. trennen, viel älter sind als die sogen. „gemeingroßrussischen" Merkmale. Das, was die lautliche Eigenart des Klr. ausmacht, entstand in der ersten Hälfte des „Zeitabschnittes 1164-1282“, d. h. vor der Auflösung der gemeinrussischen Spracheinheit: das „Urkleinrussische" bestand also nicht nach, sondern vor der Auflösung der gemeinrussischen Spracheinheit. Aber noch mehr. Wir haben gesehen, daß die Auflösung der russischen Spracheinheit mit dem Abschluß der Halbvokalbehandlung zusammenfällt. Diese Halbvokalbehandlung ist aber die letzte allen slavischen Sprachen gemeinsame Lautveränderung. Man darf also sagen, daß das Russische die Fähigkeit, an al lavischen Lautveränderungen teilzunehmen, erst dann verlor, als auch die einzelnen ostslavischen Mundarten unfähig wurden, allrussische Lautveränderungen gemeinsam zu vollziehen. Aus alledem geht hervor, daß das Ende einer Tochtersprachgemeinschaft chronologisch nicht immer jünger als das Ende einer Muttersprachgemeinschaft zu sein braucht.

Wien

Fürst N. TRUBETZKOY

Zur Geschichte der germanisch-slavischen Hauskultur

Das Autorenreferat, das ich den Lesern dieser Zeitschrift über Wunsch des Herausgebers hiermit vorlege, bringe ich lediglich in der Absicht, die Forscherkreise auf dem Gebiete der slavischen Volks- und Altertumskunde mit den Ergebnissen einer Arbeit1)

1) v. Geramb Die Kulturgeschichte der Rauchstuben, ein Beitrag zur Hausforschung. Wörter und Sachen" IX S. 1-67. Heidelberg, C. Winter 1924. Die Arbeit wurde mit Unterstützung der schwedischen Gesellschaft für Kulturgeschichte gedruckt. Sie bringt den Schlußteil einer größeren Untersuchung, die ich in den Jahren 1908-1920 im Auftrage der Akademie der Wissenschaften in Wien durchgeführt habe.

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