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Analyse des gegebenen Sprachsystems (vgl. z. B. DE SAUSSURE Cours de linguistique théorique, Paris 1922). Dazu vgl. N 47 Einleitung.

III. Theoretische Poetik.

1. Metrik.

Die formale Methode ist in der russischen Wissenschaft zuerst bei der Behandlung metrischer Fragen angewandt worden. Begründet wurde hier die neue Richtung durch die Arbeiten des Dichters ANDREJ BELYJ über den russischen vierfüßigen Jambus (N 5). Er hat zum erstenmal die Abweichungen des realen Rhythmus vom abstrakten metrischen Schema im russischen Verse untersucht und gezeigt, daß im vierfüßigen Jambus derartige Abweichungen gewöhnlich sind, und in der Fortlassung des Akzentes auf geraden Silben (mit Ausnahme der letzten), sowie in der Beschwerung der ersten unbetonten Verssilbe durch einen Nebenakzent bestehen. Außerdem untersuchte A. BELYJ die individuellen Eigenarten des Rhythmus der einzelnen Dichter durch Registrierung der Abweichungen vom Metrum, und statistische Feststellung weggelassener Akzente und ihres Verhältnisses zu den benachbarten Versen. Eine Nachprüfung seiner Statistik erwies sie als wenig überzeugend (vgl. TOMAŠEVSKIJ N 57), trotzdem wurden auch die Untersuchungen anderer Versmaße durch diese Gegenüberstellung von metrischem Schema und realem Versrhythmus bedeutend gefördert. Beim Choreus und Jambus bestehen die rhythmischen Abweichungen hauptsächlich im Fortfall der Betonung; am häufigsten schwindet die vorletzte metrische Betonung, die der stets unbeweglichen letzten vorangeht. Bei dreisilbigen Versfüßen dagegen (Daktylus, Anapäst, Amphibrachys) werden Hebungen nie fortgelassen mit Ausnahme der weitverbreiteten Erleichterung der ersten Hebung im Daktylus. Dafür finden sich häufig Beschwerungen der Senkungen, besonders der ersten Senkungssilbe im Anapäst. Durch Gegenüberstellung von zwei- und dreisilbigen Versfüßen wird der Grund der durch die lautlichen Eigenarten des Russischen bedingten Abweichungen erklärt: das russische Wort (oder der

Sprechtakt) besteht im Durchschnitt aus einer Gruppe von 3 Silben, die sich bequem in den Daktylus oder Anapäst einfügt, für Jamben oder Choräen aber zu lang ist. In denselben Arbeiten von A. BELYJ, später aber von ČUDOVSKIJ (N 65), und insbesondere von TOMAŠEVSKIJ (N 54) wird die rhythmische Bedeutung der Wortgrenzen und ihrer Lage hinsichtlich der Versakzente hervorgehoben. TOMAŠEVSKIJ berücksichtigt beide Faktoren, d. h. die Auslassung der Hebungen und die Lage der Wortgrenzen, in seinen Arbeiten über den vierfüßigen und fünffüßigen Jambus bei PUŠKIN (N 54 und 57), den ersten wissenschaftlichen Beschreibungen der metrischen Technik eines einzelnen russischen Dichters.

Die Entwicklung des russischen Verses im letzten Vierteljahrhundert stellt die russische Metrik vor neue metrische Formen. Während bei den klassischen russischen Jamben und Anapästen die Zahl der Senkungssilben zwischen den Hebungen unveränderlich ist (im ersten Falle: =1, im zweiten: =2), hat die neueste russische Lyrik (BR'UsOV, BLOK, ACHMATOVA) Verse mit einer veränderlichen Anzahl von Senkungssilben zwischen den Hebungen (1 oder 2, selten 3). Ein solcher Vers wird in der russischen Metrik als rein akzentuierend bezeichnet, da er ausschließlich auf der Zahl der Hebungen bei wechselnder Zahl der Senkungssilben beruht, während die klassischen russischen Jamben oder Anapästen dem akzentuierend-silbenzählenden System angehören. Als der reinakzentuierende Vers sich erstmalig in der modernen russischen Poesie zeigte, wurde der Versuch gemacht (vom Dichter S. BOBROV N 12) ihn, gemäß dem alten akzentuierend-silbenzählenden Schema, als einen Anapäst „mit Pausen" zu erklären, die gelegentlich eine ausfallende Silbe ersetzen. Heute wird diese Theorie abgelehnt, weil Pausen im russischen Vers als gleichberechtigte Elemente des metrischen Verses zweifelhaft sind. Außerdem, wenn einige frühere Versuche rein akzentuierenden Versmaßes (BLOK, ACHMATOVA) dem Anapäst sehr nahe kommen, so kann in seiner neuesten Entwicklungsphase (z. B. bei MAJAKOVSKIJ) eine Hebung vielfach eine größere Gruppe von Senkungssilben (z. B. 5-6 Silben), ein ganzes Satzglied beherrschen, das durch den Satzakzent zu einer

Einheit wird. Eine solche Gruppe läßt sich offenbar nicht als gewöhnlicher Versfuß auffassen. Als Vorgänger der russischen Symbolisten im Bestreben nach Befreiung des russischen Verses vom Prinzip der Silbenzählung sind zu betrachten ŽUKOVSKIJ, LERMONTOV, FET, in Übersetzungen und Nachahmungen deutscher und englischer romantischer Lyrik (insbesondere HEINE'S); ferner kommt in Frage der russische volkstümliche Vers und seine Nachahmer (4 hebiger Bylinenvers sowie z. B. LERMONTOV'S „Pesn'a o kupce Kalašnikove" u. a.), endlich die Nachahmungen antiker Versmaße, wobei der russische daktylo-choreische Hexameter, unter diesem Gesichtspunkt ein rein akzentuierender Vers, sich als gleichartig mit dem lyrischen Versmaße BLOK's erweist.

Eine Zusammenfassung all dieser für die russische Metrik · wesentlichen Fragen findet sich im neuen Lehrbuch von TOMAŠEVSKIJ „Der russische Versbau" (N 56). Dieses Werk verdient besondere Beachtung als erstes systematisches, auf der Höhe der heutigen Wissenschaft stehendes Handbuch der russischen Verslehre. Außer der Lehre vom Versmaß und Rhythmus und einer Übersicht über die wichtigsten metrischen Formen enthält dieses Buch ein Kapitel über die Zäsur, das Enjambement, den Reim und die Strophik.

Unter dem allgemeinen Einfluß der russischen symbolistischen Lyrik, die überwiegend lautliche „musikalische" Wirkung anstrebt, hat die Forschung auch den sekundären Elementen der lautlichen Verswirkung ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Die Symbolisten selbst, die innerhalb des Verses in weitem Umfange die verschiedenen Arten der Alliteration, der Assonanz und des inneren Reimes verwertet haben, begannen nach dem Vorgang französischer Theoretiker von einer „,Instrumentierung des Verses" (instrumentation verbale) zu reden, d. h. von gewissen Gesetzmäßigkeiten in der Auswahl und Verteilung der qualitativen Elemente der lautlichen Form eines Gedichtes. In seinem Buche „Die Poesie als Zauber" (N 1) verkündet BALMONT begeistert die Lehre von der emotionalen Bedeutung der einzelnen Vokale und Konsonanten, in der gleichen Weise, wie es vor ihm die deutschen Romantiker (AUG. SCHLEGEL) oder die französischen Symbolisten getan habcu. ANDREJ BELYJ analysiert zwei Verse

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aus PUŠKIN'S „Mednyj Vsadnik", die auf Alliteration beruhen (,,šipen'je penistych bokalov i punša plamen goluboj“) und findet einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen Laut und Bild (N 6 und 8). Das Interesse für derartige Fragen ist in letzter Zeit im Schwinden begriffen. Von einem solchen Umschwung zeugt der Aufsatz von B. EICHENBAUM (N 84 b), der die betreffende Richtung einer Kritik unterzieht. Es läßt sich nicht leugnen, daß in gewissen Gedichten mit gesteigerter lautlicher Ausdrucksfähigkeit und vorherrschender emotionaler Färbung (z. B. in der Lyrik BALMONT's) zwischen den Lauten des Wortes und deren emotionalem Klang eine Wechselwirkung besteht; jedoch ist diese emotionale Lautmalerei nicht in gleichem Maße bei allen Dichtern zu finden (neutral ist augenscheinlich PUŠKIN) und kann nicht auf einfache und eindeutige Wechselwirkungen zurückgeführt werden. Bedeutend mehr Aufmerksamkeit beansprucht in letzter Zeit die Frage nach den verschiedenen Typen kompositioneller Anordnung der sich im Verse wiederholenden qualitativen Elemente. Diese Erscheinung hängt mit der allgemeinen Einwirkung des rhythmischen Impulses zusammen, durch den die starken und schwachen Elemente im Verse verteilt werden, und sie läßt sich dem Gebiet des Rhythmus im weitesten Sinne zuweisen (vgl. TOMAŠEVSKIJ N 55). Hierher gehört z. B. die Harmonie der betonten Vokale (nach der Bezeichnung von M. GRAMMONT) und die verschiedenen Typen der Konsonantenwiederholungen, die O. BRIK (N 13) in einem besondern Aufsatz bespricht. Dieser letztere Aufsatz ist wichtig für den Aufbau einer Theorie des Reimes, der als Spezialfall lautlicher Wiederholungen zu betrachten ist.

Besondere Aufmerksamkeit ist in neuester Zeit den historischen und theoretischen Fragen des Reimes geschenkt worden. Dabei ist für die wissenschaftliche Behandlung der lautlichen Präzision des russischen Reimes die „Grammatik der russischen Sprache" von R. KošUTIć (N. 37) grundlegend geworden. Ihr erster Teil (Lautlehre) enthält als Beitrag zur Beurteilung der russischen Aussprache einen reichhaltigen Reimindex (ca. 250 Seiten) der russischen Dichter des XIX. Jahrh. Die Trennung der Reime nach lautlichen und morphologischen Gesichtspunkten ist

darin sorgfältig durchgeführt. Trotz ihres großen sprachwissenschaftlichen Wertes läßt sich in dieser Grammatik vom Standpunkte der Poetik eine wesentliche Unzulänglichkeit nachweisen: sie notiert nicht die Verbreitung eines gewissen Reimtypus bei den einzelnen Dichtern und zu verschiedenen Zeiten; allgemein übliche Reime stehen somit neben seltenen und nur ausnahmsweise vorkommenden (vgl. N34). Für die Geschichte der russischen Aussprache haben auch S. BERNSTEIN (N 10) und N. DURNOVO den Reim verwertet; doch weisen bereits beide Forscher auf den Unterschied der Aussprache in Prosa und Poesie hin und betonen, daß die Reimtechnik einer jeden Epoche durch die Tradition bedingt sei. Den Begriff „genauer Reim", wie er in den üblichen Lehrbüchern gegeben wird, hat der Verfasser dieses Aufsatzes einer Kritik unterzogen (N 31). Als Reim bezeichnet er eine jede Lautwiederholung, die in der metrischen Komposition eines Gedichtes (d. h. bei der Strophenbildung) als organisierendes Element erscheint. Der genaue Reim ist aus mehreren Elementen kombiniert, die in der historischen Entwicklung des Reimes einzeln auftreten (z. B. Wiederholung der betonten Vokale, der KonSonanten; Gleichheit der Versklauseln etc.). In diesem Sinne ist er einem Wellenkamm vergleichbar, dessen Hebung der Kanonisierungsprozeß des genauen Reimes, dessen Senkung dagegen seine Zerstörung (Dekanonisierung) bildet. Ein typisches Beispiel für den zuletzt genannten Prozeß ist die Entwicklung des Reimes in der neuesten russischen Lyrik (BR'USOV, BLOK, MAJAKOVSKIJ): dieser neue „ungenaue" Reim erhält eine wichtige theoretische Bedeutung durch einen Vergleich mit analogen Erscheinungen des mittelalterlichen Reimes, den Assonanzen und Alliterationen. Zerlegt man den Reim in die ihn bildenden Elemente, so erweist er sich als identisch mit den verschiedenartigsten Lautwiederholungen innerhalb des Verses. Historisch ist er aus solchen Laut wiederholungen entstanden, die eine bestimmte Funktion in der metrischen Gliederung eines Gedichtes erhalten haben. Als Beispiel für einen solchen embryonalen Reim analysiert der Verfasser den russischen Bylinenreim, der aus einem syntaktischen Parallelismus entstanden ist, sich aber allmählich von diesem befreit: durchschnittlich sind über 30

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